Romantische Idylle

Die Dult ist nicht nur ein Jahrmarkt in der Münchner Au, das ist auch ein Ortsteil der über 7000-Einwohner starken Marktgemeinde Gratkorn in der Steiermark. Eher im Hinterland gelegen, ist der ruhige Ort ein beliebtes Ziel für Spaziergänger, vor allem Grazer nutzen das natürliche Erholungsgebiet intensiv.

Inmitten der Dult, die früher auch "Kirchenviertel" genannt wurde, steht ein weißes Kloster, ein Altersheim für Nonnen der Barmherzigen Schwestern. Neben großen, weiten Wiesen und Äckern befindet sich ein Bauernhof, mehrere Häuser scharen sich um einen Hügel, die kurvige Straße führt zur berühmten Ribiselbar mit ihrem noch berühmteren Ribiselwein.

An schönen Tagen radeln Mountainbiker durch die Dult, an Tagen mit Regenwetter mühen sich Soldaten des Bundesheeres in langwierigen Übungseinsätzen im Orientierungslauf. In den vergangenen Jahren wurden immer mehr Häuser errichtet und renoviert, viele Menschen genießen die Ruhe und Abgeschiedenheit der Dult, ziehen Kinder groß und wollen ihren Lebensabend hier verbringen.

Ärger gibt es in der Dult nur mit dem sich dahin schlängelnden Bach, der bei starkem Regen über die Ufer tritt und Straßen zerstört. Und mit schnell fahrenden Autos, die in der sogenannten Juhatz-Kurve, eine besonders unübersichtliche Stelle, entgegen kommen können.

Ansonsten herrscht in der Dult eine angenehme Ruhe und friedliche Stille, auch wenn Traktoren des Bauern oder frisierte Mofas von Jugendlichen manchmal Lärm von sich geben.

Im April 1945 sieht es in der Dult freilich anders aus. Damals gab es bei weitem nicht soviele Häuser, die asphaltierte Straße war eine graue, staubende Schotterstraße, des Klosters weiße Farbe um eine Spur heller als heute. Die Grundstücke um die Straße in die Dult hinein waren nicht besiedelt, die Juhatz-Kurve lag noch unübersichtlicher da, weil Bäume und Buschwerk dort ungestört gedeihen konnten.



Gratkorn im Dritten Reich

Während rundum die Geschichte ihren Lauf nimmt, sind die letzten Atemzüge des endlich sterbenden Nazi-Deutschlands in der Dult nicht zu vernehmen. Im April  1945 scheint es stiller als sonst zu sein.

Jahre zuvor jedoch, 1926, versammelten sich aufgeregt Bauernsöhne und Arbeiter und gründeten eine Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Die Partei spielte in kommenden Lokalwahlen eine geringe bis gar keine Rolle. Nach dem Verbot der NSDAP in Österreich 1933 wurden in Gratkorn Hakenkreuz fahnen an Schornsteinen gehisst und Feuer in Hakenkreuzformen abgebrannt. Einen Höhepunkt der illegalen Aktivität der Nazis in Gratkorn bildete die Sprengung eines Hochspannungsmastes der Steweag im Juli 1934.

Laut Ortschronik, geschrieben von Ingo Mirsch, versammelten sich die Gratkorner Nationalsozialisten während des Putschversuches im Juli 1934 in einem Wald oberhalb der Dult, wo sie sich bewaffneten und planten, den Gendamerie-Posten in Gratkorn zu überfallen. Nach dem Misserfolg des Putsches schlichen sie alle wieder heim. Nach dem "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland im März des Jahres 1938 übernahmen die Nationalsozialisten jedoch mit erhobenen Köpfen auch in Gratkorn die Macht. Eine am 10. April 1938 durchgeführte Abstimmung ergab in Gratkorn 99,50 % für den Anschluss. 14 Personen von knapp 3000 Wahlberechtigten stimmten dagegen.


Mit der Ostmark begann auch in Gratkorn der Nazi-Terror. Zahlreiche Mitglieder von (kommunistischen) Widerstandskreisen wurden verhaftet, gefoltert, ermordet. Dennoch schien die Bevölkerung in Gratkorn keineswegs dem nationalsozialistischen Ideal zu entsprechen - wie der damalige Bürgermeister Sametz im Jahr 1943 bei einer Arbeitstagung bestätigen muss: "Gegenüber Parteiveranstaltungen verhält sich ein Großteil der Bevölkerung ziemlich passiv (...). Der Papierfabriks-Betrieb ist immer noch eine Stätte kommunistischer Betätigung."

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wurden überall in Gratkorn Schanzarbeiten durchgeführt, man grub Panzer- und Laufgräben. Dem Aufruf des "Volkssturms" folgten um die 230 Gratkorner im Alter von 14 bis 60 Jahren, sie wurden zu Stellungsbauarbeiten beim sogenannten Südost-Wall abkommandiert. Diese Verteidigungsstellen an der Südostgrenze des Deutschen Reiches sollten die heranziehenden Verbände der Roten Armee aufhalten. An den Arbeiten waren auch ungarische Juden und Jüdinnen beteiligt, die als ZwangsarbeiterInnen verpflichtet wurden.


Zeitzeugin Helga Steinberger, geboren am 30. Juni 1926 in Niklasdorf, kreuzte mehrmals den Leidensweg der ungarischen Jüdinnen und Juden. Sie selbst war Anfang April 1945 beim Südostwall, da sie damals im Arbeitsdienst war und zu Schanzarbeiten verpflichtet wurde.

Zunächst arbeitete sie aktiv am Ausheben von Schützengräben mit, später war sie mit Anderen für die Verpflegung der Zwangsarbeiter zuständig.

Am 5. April kommt sie nach Gratkorn in die Dult, da sie ihre dort lebende Mutter besuchen will. Schließlich macht sie sich auf den Weg zurück nach Mödling, da sie eigentlich fahnenflüchtig war, um sich dort wieder bei ihrer Kompanie zu melden. Während ihres langen Fußweges findet sie später Leichen von ermordeten ungarischen Jüdinnen und Juden am Präbichl am 7. April 1945.


Flucht und Mord

Am 4. April 1945 setzen sich drei Kolonnen mit 6000 ungarischen Juden und Jüdinnen von Graz aus in Richtung Bruck an der Mur in Bewegung.

Die Kolonnen bestanden aus Häftlingen verschiedener Anhalte- und Auffanglager in Graz, unter anderem aus Andritz, Eggenberg und Liebenau, die zuvor zu Stellungsbauarbeiten am Südostwall zwangsverpflichtet wurden.

Zumindest eine Kolonne muss auch durch Gratkorn marschieren. "War ein Jude (...) vor Erschöpfung zusammengebrochen, so gab es für ihn nur einen Genickschuß",  ist in der Chronik der Gendamerie Gratkorn zu lesen.

Bei Gratkorn gelingt es einigen Juden zu entfliehen. Die Wachmannschaft, bestehend aus Gestapo- und SS-Männern, Gendarmen sowie alten Männern des Volkssturms, passte vielleicht für einen Moment nicht auf, war durch einen Zwischenfall abgelenkt, übersah möglicherweise die Entfliehenden an einer Straßenstelle.

Mindestens sechs abgemagerte Menschen rannten und humpelten in Richtung Dult davon. Die Kulturwissenschafterin Eleonore Lappin-Eppel, die sich mit Todesmärschen ungarischer Juden befasste, spricht von insgesamt 20 ungarischen Jüdinnen und Juden, die bei Gratkorn entfliehen konnten. Wahrscheinlich flohen sechs Häftlinge in die Dult, vierzehn entkamen in Eggenfeld bei Gratkorn.

Zu dieser Zeit war in Gratkorn die Waffen-SS-Division „Wiking“ stationiert. Nach Kämpfen an der Weichsel und um Budapest wurde die Division über Ungarn nach Österreich verlegt. Die Einheit, unter anderem bestehend aus fanatischen Nationalsozialisten aus den Niederlanden und Belgien, machte sich mehrerer Kriegsverbrechen schuldig.

Im Zuge des Unternehmens "Barbarossa", dem Überfall auf die Sowjetunion, ermordeten Soldaten der Einheit mehr als 700 Juden und Jüdinnen. Als Vergeltungsmaßnahme für "sowjetische Grausamkeiten" ermordeten sie im Juli 1941 600 jüdische Bewohner des Stetls Sboriw. Bei Todesmärschen von jüdischen Häftlingen in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen töteten Angehörige der Division ungefähr hundert Häftlinge unter anderem im Burgenland und in der Steiermark.


Nachdem bekannt wurde, dass Häftlinge entflohen waren, schwärmten die Mitglieder der SS-Division aus. 14 der Entflohenen wurden sofort aufgegriffen und ermordet, sechs weitere erst ein wenig später.

Diese sechs Häftlinge flohen wahrscheinlich in die Dult. Dort bettelten sie bei Anrainern um Nahrungsmittel.


Die Mutter von Helga Steinberger sprach davon, dass sie die runzligen Kartoffeln, die man ihnen gab, mitsamt der Schale hinunterwürgten. Schließlich endet die Flucht. SS-Männer entdecken die Flüchtlinge, stellen sie laut der Zeitzeugin bei der Juhatz-Kurve in einer Reihe auf und erschießen sie.

Die Kolonne setzt ihren Weg ins Konzentrationslager Mauthausen fort. Es wird zu weiteren Massakern kommen - das berüchtigste am steirischen Präbichl am 7. April 1945.


Vergessen und verdrängt?

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zerfall des sogenannten tausendjährigen Reiches 1945 wird von der Polizei das Grab mit den 14 Häftlingen ausgehoben und die Leichname werden in ein großes Grab im Jüdischen Friedhof Graz umgebettet. Das zweite Massengrab mit den sechs ermordeten Juden in der Dult bleibt anscheinend, wo es ist. Unberührt.

In der Chronik des Klosters, so die Oberschwester, stünde nichts über diesen „Vorfall“, nur dass „Soldaten da gewesen sind“.  Ältere Nonnen, die sich an diesen Vorfall noch erinnern könnten, sind im Kloster nicht anzutreffen. Hier verbringen Schwestern ihre letzten Jahre, Nachwuchs gibt es nicht.

Laut Angaben von Helga Steinberger befindet sich das Massengrab in der Juhatzkurve, wahrscheinlich am Straßenrand: Heute ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare. Oft sitzen Pärchen Hände haltend auf einer Bank, Autos stehen des Nachts geparkt am Straßenrand.

Gras ist im wahrsten Sinne des Wortes über die Sache gewachsen. Früher lagerte der ansässige Bauer hier Strohballen, vor kurzem wurde der Wald gerodet. Ein Schild liegt in der Wiese, es handelt sich um einen Hinweis auf Privatgrund, der nicht betreten werden darf.

In Gratkorn wissen viele von dem Mythos eines solchen “Judengrabs” - selbst  jene Generation, deren Urgroßväter im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben mochte. Wo genau sich das Grab befindet, das weiß jedoch niemand so recht, Denkmal gibt es keines. Die Ortschronik von 1997 erwähnt immerhin, dass ungarische Juden durch den Ort getrieben wurden.

"Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen" - dieses Zitat des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog könnte sich die Marktgemeinde Gratkorn durchaus zu Herzen nehmen. Nicht nur, dass es wichtig wäre, die Erinnerung an die (kommunistischen) Widerstandskämpfer im Ort aufrecht zu erhalten, vor allem den ermordeten Juden in der Dult gebührt Andenken und immerwährendes Erinnern.

So reiht sich der Ort nahezu typisch für Österreich in jene Ortschaften und Städte ein, die die Gräueltaten des Nationalsozialismus lieber vergessen, anstatt kritisch aufzuarbeiten, und verdrängen, anstatt mahnend zu erinnern.

Gedenksteinenthüllung 2016

Im April 2016 enthüllt die Marktgemeinde Gratkorn einen Gedenkstein im Gedenken an die ungarischen Opfer

Am 04. April 2016 enthüllt die Marktgemeinde Gratkorn einen Gedenkstein zum Gedenken an die ermordeten ungarischen Jüdinnen und Juden.

Diese Reportage legte den Grundstein für die Enthüllung. Am 14. November 2014 organisiert der Autor gemeinsam mit dem Kulturreferenten der Marktgemeinde Gratkorn, Karlheinz Pöschl, eine Gedenkfeier. Der Historiker Karl Kubinzky sowie Gedenkstättenaktivist Rainer Possert halten Reden. Antony Scholz, der ehemalige Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Graz betete abschließend ein Kaddisch.

2015 findet die Gründung eines “Aktionskomitees für die Errichtung einer Gedenkstätte in Gratkorn”, bestehend aus Herwig Brandstetter, O. i. R. Manfred Oswald und dem Autoren der Reportage statt. Durch ihre Anregung beschließt die Marktgemeinde Gratkorn unter der Führung von Bürgermeister Helmut Weber einstimmig, einen Gedenkstein sowie eine Informationstafel rund um die Todesmärsche in der Steiermark zu installieren.

71 Jahre nach den abscheulichen Ereignissen in Gratkorn wurde die Gedenkstätte feierlich eröffnet.

Landtagspräsidentin Bettina Vollath, die israelische Botschafterin Talya Lador-Fresher, der Gesandte des ungarischen Botschafters, Gabor Hajas sowie weitere zahlreiche prominente Gäste wohnten der Eröffnung bei und hielten Grußworte sowie Reden. Die Gratkorner Bevölkerung wurde anschließend zur Steinniederlegung vor dem Gedenkstein eingeladen.

Danksagung

Mit Dank an

Tanja Malle und Andrea Stangl für Literaturtipps, Sandra Rachinger für ihren Animationsfilm (Musik: "Dark Times" von Kevin MacLeod), der Marktgemeinde Gratkorn für Bilddokumente und Helga Steinberger für ihre Bereitschaft, ihr kostbares Wissen mit dem Autor zu teilen. Dank gebührt ebenfalls Lucas Kundigraber und Lydia-Marie Tonsern für ihre Bereitschaft Bilder zu schießen. Dank gebührt auch dem Historiker Ingo Mirsch, dessen Ortschronik von Gratkorn eine unerlässliche Quelle für diese Reportage bildete.

Bildquellen

Sämtliche Bilder, wenn nicht anders angegeben, entstammen der privaten Sammlung des Autors. Bilddokumente im Kapitel "Gratkorn im Dritten Reich" wurden von der Marktgemeinde Gratkorn zur Verfügung gestellt. Die Bilder in der Slideshow im Kapitel "Flucht und Mord" wurden von Lucas Kundigraber geschossen. Die Farbfotos der Dult (Erstes Kapitel und Kapitel "Vergessen und verdrängt?") stammen von Lydia-Marie Tonsern. Besonderen Dank gebührt auch dem Historiker Walter Dal-Asen, der das erste Bild im Text des Kapitels "Flucht und Mord" zur Verfügung stellte.

Der Autor

Maximilian H. Tonsern studierte Journalismus und Public Relations (PR) an der FH Joanneum, Graz, und ist heute als freier Journalist tätig. Er legte in seinen wissenschaftlichen Arbeiten immer wieder den Schwerpunkt auf das Thema Nationalsozialismus. So erstellte er unter anderem neben einer FBA mit dem Titel “Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken” zum Thema nationalsozialistische Erziehung im Kindergarten auch eine Ausstellungsmappe zu der Österreichischen Freiheitsfront für die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.

Es sind nur Soldaten da gewesen
  1. Romantische Idylle
  2. Gratkorn im Dritten Reich
  3. Flucht und Mord
  4. Vergessen und verdrängt?
  5. Gedenksteinenthüllung 2016
  6. Danksagung